Die Alben des Jahres 2023 von Werner Herpell

Wilco by Charles Harris

Von Wilco bis Natalie Merchant: Sounds & Books-Mitarbeiter Werner Herpell präsentiert seine 25 Alben des Jahres 2023.

Es tut diesem Schreiber ja sehr leid (nein, nicht wirklich…) – aber er muss sich wiederholen: „Gähn, mal wieder Wilco“, so das Fazit vor einem Jahr, als die geniale Band aus Chicago erneut sein Album des Jahres abgeliefert hatte. 2022 war es das in allen Folk- und Countryrock-Farben schillernde „Cruel Country“, und auch diesmal führt kein Weg am neuesten, stilistisch durchaus unterschiedlichen Werk von Jeff Tweedy und Co. vorbei. Dahinter aber wird’s bunt: Von tollem Britpop über monumentale Glasgow-Melancholie, nervösen Art-Pop, wunderbar melodischen Ami-Folkrock und frühreife Singer-Songwiter-Perlen bis zu „World Music“-Meisterstücken ist in den Top Ten viel Abwechslung. Dass schottische, irische und englische Platten 2023 so starke Auftritte hatten, freut den Fan dieser Insel-Länder ganz besonders. Ebenso die in diversen neuen Albumveröffentlichungen spürbare Nick-Drake-Verehrung.

Alben des Jahres 2023

1. Wilco: Cousin

Wer sonst könnte hier Platz 1 einnehmen, wenn diese Band in Topform ein neues Album aufnimmt? „Cousin“ folgt auf durchweg brillante, faszinierend frische Weise (Wilco sind immerhin schon 30 Jahre im Business unterwegs!) den experimentelleren Artrock-Spuren von „Yankee Hotel Foxtrot“ (2002) und „The Whole Love“ (2011), setzt sich also vom Americana-Wohlklang auf dem Klassiker „Sky Blue Sky“ (2007) oder zuletzt „Cruel Country“ (2022) etwas ab. Mit dem Opener-Doppelschlag „Infinite Surprise“ und „Ten Dead“ sowie einer guten Handvoll weiterer Songjuwelen wie „A Bowl And A Pudding“ oder „Pittsburgh“ gehört diese ambitionierte Platte zu Wilcos besten. (Beitragsbild: Wilco by Charles Harris)

2. Blur: The Ballad Of Darren

Die Krönung des diesjährigen Triumphzuges von Damon Albarn – nach einem Nummer-eins-Album mit den Gorillaz kurz zuvor und der fabelhaften Co-Produktion für die Afropop-Queen Fatoumata Diawara (siehe Rang 9) zeigte das Londoner Britpop-Genie beim Studio- und Live-Comeback mit seiner seit über 30 Jahren existierenden Band, welch großartiger Sänger, Songwriter und Teamplayer er ist. „The Ballad Of Darren“ ist ein vor Energie und Ideen nur so strotzendes Album, auf das auch David Bowie (an dessen beste Arbeiten Albarn und Blur nun zunehmend erinnern) stolz gewesen wäre.

3. The Bathers: Sirenesque

Ein als Herbstalbum passenderweise im Oktober veröffentlichtes Werk, das daher erst spät auf dieser Bestenliste landete – dann aber sehr weit oben: „Sirenesque“ ist, mehr noch als die Blur-Platte, für mich das Sensations-Comeback des Jahres. Über zwei Dekaden lang hatte Chris Thomson sich zurückgezogen – um dann, als Sänger noch weiter in die Nähe von Tom Waits, Van Morrison oder David „Blackstar“ Bowie gereift, mit seinem Glasgower Barockpop-Projekt The Bathers ein Meisterwerk vorzulegen. Mit hochemotionalen Balladen wie dem Titelstück, „Garlands“ oder „Welcome To Bellevue“ erschüttern die Schotten auch abgebrühteste Hörer. Eine wunderbar aus der Zeit gefallene Platte.   

4. Slaughter Beach, Dog: Crying Laughing Waving Smiling

Diese US-Folkrock-Band mit dem kecken Komma im Namen hatte ich bisher zugegebenermaßen nicht auf dem Zettel – was sich dank „Crying Laughing Waving Smiling“ aber nun grundlegend geändert hat (auf Bandcamp gibt’s zum Glück reichlich älteren, auch schon sehr starken Stoff). Frontmann und Hauptsongwriter ist ein gewisser Jacob Ewald, und wie er auf dem besten Song „Engine“ über acht wonnige Minuten Wilco-Melancholie mit dem sphärischen Gitarren-Drive von The War On Drugs verbindet, ist großartig. Eine Entdeckung, die Anlass zu großen Hoffnungen gibt – und hoffentlich demnächst auch mal in Deutschland live zu sehen ist.

5. Art Feynman: Be Good The Crazy Boys

Wer bei diesem Künstlernamen stutzt, muss sich ob der Bildungslücke nicht grämen. Vielleicht sagt ihm/ihr der Name Luke Temple mehr, oder das Bandprojekt Here We Go Magic. Dahinter steckt stets derselbe äußerst umtriebige Singer-Songwriter und Multiinstrumentalist, der sich dieses Jahr anschickte, die Indiedisco-Tanzflächen in Brand zu setzen. Mit seinem hibbeligen Sound in der Nähe von afrobeat-punky Talking Heads, funky David Bowie  und frühen Arcade Fire hat Feynman/Temple mal eben das tanzbarste, mitreißendste Artrock-Album des Jahres abgeliefert.

6. Ed Motta: Behind The Tea Chronicles

Der in jeder Hinsicht eindrucksvolle Singer-Songwriter, Multiinstrumentalist und Produzent aus Rio de Janeiro wird immer besser. Sein schon länger bekanntes Faible für den perfekten Seventies-Sound von Steely Dan lebte er noch nie so einfallsreich aus wie auf manchen Songs dieser neuen Platte, hinzu kommen Jazz, Soul, Funk, Latin und cineastische Arrangements. Wegen seiner Herkunft aus Brasilien oft unter „World Music“ eingeordnet, ist „Behind The Tea Chronicles“ schlicht ein formidables Pop-Album.

7. Grimson: Climbing Up The Chimney

Quasi aus dem Nichts legte der in Berlin lebende schwedisch-amerikanische Singer-Songwriter im Spätsommer ein Referenzalbum des „Sophisticated Pop“ vor. Dabei waren diese mal still berührenden, mal ausschweifend opulenten Lieder im Grunde schon einige Jahre alt, stammten aus Teenager-Zeiten des sympathischen Supertalents. Gut, dass Grimson nun seine Jugendsünden gebeichtet hat – die nächste Platte soll nach eigener Auskunft noch besser werden.

8. Cian Nugent: She Brings Me Back To The Land Of The Living

Dieses Musikjahr war eines der unerwarteten Entdeckungen von Musik aus Irland – siehe das Debüt von Grian Chatten (siehe Rang 16), die düstere Crooner-Platte von A.S. Fanning oder der Drone-Folk von Lankum. Dazu gehörte auch dieser Mann von der grünen Insel mit dem fantastischen Gitarrenspiel und der sonoren Stimme – Cian Nugent rehabilierte lässig den von einem fiesen rechtsextremen US-Hardrocker beschmutzten Nachnamen.

9. Fatoumata Diawara: London Ko

Wie man aufmunternde Lebensfreude und wichtige politische Botschaften verbinden kann, zeigte 2023 auf Platte und im Konzert niemand so kongenial wie Fatoumata Diawara. Ihre Freundschaft mit Damon Albarn, die früher bereits mit dem fabelhaften Gorillaz-Track „Désolé“ ihren Ausdruck fand, gipfelte in einem neuen Afropop-Klassiker, der im Albumtitel die Metropolen London und Malako zusammenfügte. Was für eine starke Frau, was für eine tolle Musikerin.

10. SBT (Sarabeth Tucek): Joan Of All

Noch eine Überraschung für mich, eine Wieder-Entdeckung: Sarabeth Tucek, die ihren Namen jetzt zu einer sperrigen Buchstabenkombination abgekürzt hat, war vor zehn, fünfzehn Jahren eine der hoffnungsvollsten US-Singer-Songwriterinnen mit einer wunderbaren Stimme irgendwo zwischen Laura Nyro, Aimee Mann und Karen Carpenter. Mit ihrem monumentalen Doppelalbum voller persönlich gefärbter, (folk)rockiger Songjuwelen ist sie nun zum Glück zurück auf der großen Bühne.

11. King Creosote: I DES

Ein Eigenbrötler von der herrlichen schottischen Ostküste verbindet Folkrock, Elektronik, Ambient und Drone. Klingt wider Erwarten klasse.

12. Ben Folds: What Matters Most

Der einstige Piano-Punk erweist sich mit raffinierten Songs erneut als würdiger Nachfolger von Elton John, Billy Joel und Randy Newman.

13. Element Of Crime: Morgens um vier

Keine Band verbindet Melancholie und Lakonie so schlau und schön und wie diese (Wahl-)Berliner um den Pop-Poeten Sven Regener.

14. Diverse: The Endless Coloured Ways – The Songs Of Nick Drake

Ja, es kann funktionieren, die ikonischen Lieder eines Folk-Genies mal nah am Original, mal sehr frei und immer bewegend zu covern. Chapeau!

15. Stornoway: Dig The Mountain!

Die zwischen Euphorie und Melancholie schwankenden Lieder der britischen Folkies wurden arg vermisst – das Comeback begeistert umso mehr.

16. Grian Chatten: Chaos For The Fly
Von seiner Band Fontaines D.C. kannte man ihn als lauten Postpunk-Frontmann. Für sein Soloalbum zog Grian Chatten leisere, feinere Töne vor.

17. Husten: Aus einem nachtlangen Jahr

Noch eine deutsche Band, die „aus einem nachtlangen Jahr“ heraus sowohl auf Platte als auch live voll überzeugen konnte. Wir husten gerne mit.

18. PJ Moore & Co: When A Good Day Comes

Es war ein starkes Jahr für Musik aus Schottland – der an The Blue Nile erinnernde Art-Pop eines Ex-Mitglieds der legendären Glasgow-Band gehörte dazu.

19. Jonathan Wilson: Eat The Worm

Sein Job als Gitarrenheld bei Roger Waters ließ Wilson zum Glück genug Zeit für sein bestes, mutigstes, stilistisch weit ausholendes Soloalbum.

20. Roo Panes: The Summer Isles

Musikalische Landschaftsmalerei diesmal von der schottischen Westküste – der Engländer Panes ließ sich da zu einer prächtigen Platte inspirieren.

21. Emma Tricca: Aspirin Sun

Auch hier beeinflusste Nick Drake Songwriting und Arrangements – was Tricca aber nicht davon abhielt, ein ganz eigenständiges Werk zu schaffen.

22. The Rolling Stones: Hackney Diamonds

Hand aufs Herz – wer hatte noch mit so einem Spätwerk von Mick ’n‘ Keef (zusammen 160 Jahre alt!) gerechnet? Die Rock-Rakete des Jahres!  

23. Dota: In den fernsten der Fernen

Teil 2 einer Verbeugung der wunderbaren Dota Kehr vor dem Werk der vorher fast vergessenen Dichterin Mascha Kaléko – erneut ein Triumph.

24. Robert Forster: The Candle And The Flame

Die Mut machenden neuen Songs für seine schwer kranke Ehefrau Karin gehören zu den besten von Robert Forster seit Go-Betweens-Zeiten.

25. Natalie Merchant: Keep Your Courage

Wie der Albumtitel andeutet: Den Frauen dieser Welt Mut machen sollen auch die Lieder der so sanften wie kämpferischen Natalie Merchant. 

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